Direkte Demokratie – ihr gehört die Zukunft
aus NZZ AM SONNTAG v. 16.10.2016 – Gastkommentar von Bruno S. Frey
Die Referendumsdemokratie mit ihren Volksentscheiden ist andern politischen Systemen weit überlegen – aber nicht perfekt. Der Ökonom Bruno S. Frey schlägt Verbesserungen vor.
Gegen die direkte Demokratie werden in letzter Zeit verstärkt Vorbehalte und Bedenken geäussert. Sie wird etwa als ein «Risiko für die politische Stabilität» angesehen, wie es vor einer Woche in dieser Zeitung hiess. Zuweilen wird eine Entscheidung, wie diejenige der britischen Wählerinnen und Wähler zum Austritt aus der EU, sogar als grandioser Fehler bezeichnet. Der direkten Demokratie werden dabei verschiedene Mängel vorgeworfen.
Die Abstimmenden seien schlecht informiert, heisst es oft. Die Wählenden müssen den Inhalt der Vorlagen nicht im Detail kennen und verstehen. Sie müssen nur über den grundlegenden Aspekt Bescheid wissen. Dazu dient vor der Abstimmung eine intensive Diskussion in den klassischen und neuen Medien. Eine Volksbefragung darf von einer Regierung nicht dann angesetzt werden, wenn sie selbst ratlos ist, wie dies David Camerons britische Regierung war. Die Bevölkerung soll auch nicht eine bereits feststehende Politik sanktionieren, wie dies soeben in Ungarn der Fall war.
Kalifornien ist kein Vorbild
Das Stimmvolk darf ausserdem nicht mit zu vielen Vorlagen überhäuft werden. In Kalifornien etwa wird das Volk gleichzeitig mit vielen Dutzenden Fragen konfrontiert. Niemand kann dann vernünftig entscheiden. Deshalb nehmen manche amerikanischen Forscher gegen die direkte Demokratie – und sogar gegen die Demokratie als Ganzes – Stellung. In der Schweiz brauchen wir hingegen an einem Abstimmungsdatum jeweils nur über drei oder vier Vorlagen auf kommunaler oder kantonaler Ebene und auf Bundesebene zu entscheiden.
Die Ökonomen Alois Stutzer und Matthias Benz haben mit einer sorgfältigen Untersuchung anhand der Volksabstimmungen in verschiedenen Ländern der EU gezeigt, dass sich die Bevölkerung besser über politische Probleme informiert, wenn sie mitbestimmen darf. Hingegen ist es für den einzelnen Bürger sinnlos, sich vertieft über die Vor- und Nachteile einer Vorlage zu informieren, wenn diese von einer Regierung einfach beschlossen wird.
Details sind nicht entscheidend
Gegen Volksabstimmungen wird auch häufig vorgebracht, die Bevölkerung sei überfordert und verfüge nicht über die notwendigen Fähigkeiten, eine vernünftige Entscheidung zu fällen. Vielmehr sollen Experten und professionelle Politiker massgeblich sein. Bei Volksabstimmungen geht es jedoch nicht darum, eine Vorlage in allen Einzelheiten zu kennen; die Gesamtausrichtung ist entscheidend. Die Bevölkerung kann sich in der Abstimmungsbroschüre oder an den Parolen einer Partei oder Interessengruppe orientieren. Die Meinung der Experten sollte nicht überschätzt werden. Zur Gesamtwirkung einer Vorlage gibt es auch unter Experten unterschiedliche Meinungen – was bei komplexen Entscheiden nicht überrascht.
In einer repräsentativen Demokratie entscheiden professionelle Politiker. In der Regel ist der Einzelne jedoch schlecht informiert, weil die Parteispitze festlegt, wie im Parlament abgestimmt werden muss. Zwischen Vor- und Nachteilen können bestenfalls die Vertreter in den einschlägigen Kommissionen abwägen. Es wäre jedoch naiv, anzunehmen, dass dort vorwiegend im Sinne des Gemeinwohls entschieden wird. Im Vordergrund stehen Parteiinteressen und Wiederwahlerwägungen.
Mit Ausländern und dem Zufall
Eine direkte Demokratie ist selbstverständlich nicht ideal, sondern sollte laufend verbessert werden. Dazu einige Vorschläge:
Bei knappen Abstimmungsresultaten – etwa beim Radio- und Fernsehgesetz, zu dem 50,1 Prozent Ja und 49,9 Prozent Nein sagten – sollte in der Verfassung ein zwingender Konsensprozess festgelegt werden. Ein für alle vorteilhafter Vorschlag muss wieder dem Volk vorgelegt werden.
Ausländern sollte ein gewichtetes Stimmrecht eingeräumt werden, denn auch sie werden durch die politischen Entscheidungen betroffen. So könnte ihre Stimme in den ersten zwei Jahren des Aufenthalts im Lande zu 20 Prozent zählen, nach fünf Jahren zu 50 Prozent und nach zehn Jahren zu 100 Prozent, was zudem die Integration wesentlich fördert. Im digitalen Zeitalter ist dies leicht zu bewerkstelligen.
In einer Demokratie können Zufallsverfahren fruchtbar eingesetzt werden. So könnte die Regierung, ein Teil des Parlamentes, eine dessen Kammern oder Ausschüsse zufällig aus der Bevölkerung ausgewählt werden, wodurch eine wirklich repräsentative Vertretung erreicht wird. Das politische System öffnet sich für neue Ideen und Ansichten, was einer Verkrustung entgegenwirkt. Kompetenz für bestimmte Positionen lässt sich durch eine Kombination mit direkten Wahlen erreichen. Die Zufallswahl wird dann aus einer von den Wählenden als geeignet angesehenen Grundgesamtheit gezogen.
Die direkte Demokratie kann vielfältig weiterentwickelt werden. Im Vergleich zu allen anderen politischen Systemen ist die direkte Demokratie die Demokratie der Zukunft.